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Der Verlust des ganzheitlichen Denkens – Warum die wahre Bedrohung der Flugsicherheit nicht „Mensch“ sondern vielmehr der „nicht-mehr- verstehende-Mensch ist

Eine stille Erosion der Kompetenz – „DÜRFEN” ist längst keine Garantie mehr für “KÖNNEN”
Es gibt eine paradoxe Entwicklung in der Luftfahrt: Während die Flugzeuge sicherer, die Systeme präziser und die Verfahren strenger werden, scheint das Verständnis für das Ganze – das komplexe Zusammenspiel all dieser Faktoren – leise zu erodieren. Der Fortschritt, der uns sicherer machen sollte, beginnt uns zu entmündigen.
Was einst die Stärke des Piloten, des Technikers, des Controllers war – die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, das große Bild zu sehen, Entscheidungen zu treffen, die nicht im Handbuch stehen – wird zunehmend durch Checklisten, Prozeduren und Automatisierungen ersetzt.
Heute verstehen viele Beteiligte die Systeme, die sie bedienen, nur noch in Segmenten. Der Pilot kennt das FMS-Menü, nicht aber die physikalische Logik dahinter. Der Techniker folgt dem Wartungsskript, ohne den Hintergrund des Bauteilverhaltens zu verstehen. Der Controller vertraut der Software, ohne zu hinterfragen, wie sie Risiken bewertet. Das System funktioniert – solange es funktioniert.
Doch Sicherheit entsteht nicht aus Perfektion, sondern aus der Fähigkeit, mit dem Unvorhersehbaren umzugehen. Genau diese Fähigkeit geht verloren.

Vom Fliegen zum Bedienen: Wie wir das Denken auslagerten
In den frühen Tagen der Luftfahrt war Fliegen ein Handwerk. Piloten waren Ingenieure, Meteorologen, Navigatoren und Mechaniker in einer Person. Jedes Geräusch, jeder Geruch, jede Schwingung hatte Bedeutung. Die Beziehung zwischen Mensch und Maschine war unmittelbar.
Mit der Einführung digitaler Avionik, Autopiloten und später der Fly-by-Wire-Technik begann die Entfremdung. Die Systeme wurden komplexer – und zugleich undurchsichtiger. Moderne Cockpits gleichen Rechenzentren. Der Mensch ist nicht mehr Akteur, sondern Supervisor.
Das hat zweifellos Leben gerettet. Doch der Preis ist hoch: Wissen wird ersetzt durch Vertrauen in Algorithmen. Die Ausbildung verschiebt sich von Verständnis zu Bedienkompetenz. Simulatoren lehren Verfahren, nicht Prinzipien.
In vielen Ausbildungsprogrammen sind Stunden für Grundlagenmechanik oder Aerodynamik längst den „Human Factors“-Modulen gewichen. Das ist an sich sinnvoll – aber oft bleibt es bei psychologischen Schlagworten. Der Mensch soll sich an das System anpassen, statt es zu durchdringen.
Wir erleben eine stille, aber fundamentale Transformation: aus Piloten werden Systemmanager, aus Technikern Dateneingabende, aus Safety-Beauftragten Tabellenpfleger.

Die Psychologie des Procedere: Warum wir Komplexität meiden
Menschen lieben Ordnung. Wir suchen Strukturen, Regeln, Sicherheit. Doch in komplexen Systemen kann zu viel Ordnung zur Falle werden.
Jeder, der in der Luftfahrt tätig ist, kennt das Mantra: Follow the procedure. Es ist ein Satz, der Leben rettet – und doch, in seiner Übertreibung, das Denken lähmen kann.
Prozeduren sind Krücken für das Gehirn. Sie entlasten uns von Entscheidungen, sie verhindern Fehler – aber sie verhindern auch das Lernen. Der Mensch gewöhnt sich daran, nur noch zu reagieren, statt zu antizipieren.
Psychologisch betrachtet entsteht dadurch ein Phänomen, das man als „Komplexitätsvermeidung“ kennt. Wer in einem Umfeld arbeitet, das von Vorschriften dominiert ist, verlernt, unvollständige Informationen zu interpretieren.
Das gilt nicht nur für Piloten. Auch Maintenance-Teams, Flugsicherungen, Behörden und Hersteller entwickeln diese Tendenz. Man reagiert auf Abweichungen nicht mehr mit Neugier, sondern mit Angst.
Je mehr wir kontrollieren wollen, desto weniger verstehen wir.

Das Ende des „Big Picture“: Verlust an Systemverständnis
Ganzheitliches Denken ist mehr als die Summe einzelner Fachkenntnisse. Es ist die Fähigkeit, die Wechselwirkungen zwischen Technik, Mensch, Organisation und Umwelt zu begreifen – und daraus sinnvolle Schlüsse zu ziehen.

In der Flugsicherheit ist diese Fähigkeit essenziell. Doch sie schwindet – und das aus strukturellen Gründen.

  1. Spezialisierung: Die Luftfahrt hat sich in hochspezialisierte Silos aufgeteilt. CAMO, Part-145, Operations, Training – jeder Bereich hat seine eigenen Vorschriften, Begriffe, Verantwortungen. Das Ergebnis: Niemand sieht mehr das Ganze.
  2. Digitalisierung: Systeme werden „black boxes“. Die Logik hinter Datenströmen, Fehlermeldungen oder Software-Verhalten ist für den Anwender unsichtbar. Fehlererkennung wird zu Fehlervermutung.
  3. Verwaltung statt Verständnis: Safety Management Systems (SMS) werden als bürokratische Pflicht wahrgenommen. Der Fokus liegt auf Dokumentation, nicht auf Erkenntnis.
Ein junger Pilot, der ein modernes Verkehrsflugzeug fliegt, kann heute eine gesamte Karriere absolvieren, ohne jemals eine aerodynamische Instabilität wirklich erlebt oder verstanden zu haben.
Das ist, als würde ein Arzt Krankheiten nur aus dem Lehrbuch kennen.

Technikgläubigkeit und institutionelle Verantwortung

In einer Zeit, in der Computer mehr Rechenleistung besitzen als ganze NASA-Programme der 1960er, ist es verführerisch, zu glauben, Technik könne Fehler ausschließen. Doch Systeme reproduzieren nur das, was sie kennen. Sie sind nicht fähig, das Unbekannte zu antizipieren. Der Mensch hingegen kann das – oder konnte es zumindest.

Die großen Katastrophen der letzten Jahrzehnte – von der Übersteuerung des MCAS-Systems der Boeing 737 MAX über Air France 447 bis zu unzähligen kleineren Vorfällen – zeigen ein Muster: Technologie ersetzt Wahrnehmung, und Organisationen ersetzen Verantwortung durch Prozesse.
Im Fall der 737 MAX wurde das Vertrauen in die Software höher gewichtet als die Ausbildung der Piloten. Das Ergebnis war eine Katastrophe – nicht, weil jemand die Regeln missachtet hat, sondern weil alle ihnen zu sehr vertrauten.
Technikgläubigkeit ist keine moderne Form von Fortschritt. Sie ist die Rationalisierung von Ignoranz.Sicherheitsmanagement im Blindflug: Wenn Safety zu Statistik wird
Das Safety Management System, einst eingeführt als Werkzeug für gelebte Sicherheitskultur, ist vielerorts zu einem Instrument der Compliance verkommen.
Safety-Officer füllen Tabellen, zählen Reports, werten Trends aus – und verlieren dabei das, was Statistik nie zeigen kann: die Dynamik des Realen.
Eine niedrige Zahl an Meldungen bedeutet nicht, dass alles gut läuft – oft bedeutet sie das Gegenteil: dass niemand mehr hinsieht, niemand mehr berichtet, niemand mehr hinterfragt.
Die eigentliche Aufgabe der Safety-Kultur war es, menschliches Denken zu fördern – nicht es zu ersetzen.
Wenn Safety zum bürokratischen Selbstzweck wird, verwandelt sich das System in eine Echokammer: Es produziert Sicherheit auf dem Papier, aber nicht in der Luft.

Lehren aus Zwischenfällen – vom MAX bis zu den Basics
Die bekanntesten Unglücke der letzten Jahre haben ein gemeinsames Muster: nicht technisches, sondern kognitives Versagen.
Bei Air France 447 verloren die Piloten über dem Atlantik das Verständnis dafür, was das Flugzeug tat. Vereiste Pitot-Rohre führten zu widersprüchlichen Anzeigen. Die Crew reagierte nach Verfahren – und überzog die Maschine, bis sie in den Strömungsabriss fiel. Niemand verstand, was wirklich passierte.
Bei der Boeing 737 MAX vertrauten Piloten und Aufsicht gleichermaßen einer Software, die eigenständig in die Fluglage eingriff. Als sie versagte, blieb das Wissen, sie zu übersteuern, unzureichend vermittelt.
Bei Colgan Air 3407 reagierte der Kapitän instinktiv falsch auf ein Stall-Warning. Seine Reaktion – Ziehen statt Drücken – war gegen jede aerodynamische Logik, aber tief verinnerlicht aus Routine.

Diese Ereignisse eint, dass die Beteiligten nicht unfähig waren, sondern über angepasst. Sie dachten im Rahmen von Prozeduren, nicht im Rahmen von Systemen.

Was verloren geht, wenn Erfahrung ersetzt wird
Erfahrung ist mehr als Flugstunden. Sie ist die Fähigkeit, Muster zu erkennen, Anomalien zu spüren, Intuition mit Wissen zu verbinden.
Doch die Luftfahrtindustrie hat Erfahrung zu einem verwalteten Gut gemacht. Simulatorprogramme standardisieren Reaktionen, Ausbildungszeiten werden verkürzt, Erfahrungsstufen verregelt.
Ein First Officer kann heute 3.000 Stunden im Cockpit verbringen, ohne jemals einen echten Notfall erlebt zu haben. Seine Kompetenz besteht aus Routine – und Routine ist das Gegenteil von Verständnis.
Auch am Boden zeigt sich das Phänomen. CAMO-Mitarbeitende prüfen Wartungsaufzeichnungen, ohne die technische Bedeutung der Tasks zu verstehen. Der Prüfer bewertet das Formular, nicht das Flugzeug.
So entsteht eine Illusion von Kontrolle – und genau das ist gefährlich.
Denn Sicherheit entsteht nicht allein aus Konformität, sondern aus Kompetenz.

Der Weg zurück: Wie Ausbildung, Kultur und Haltung erneuert werden müssen
Wenn wir den Verlust des ganzheitlichen Denkens stoppen wollen, müssen wir dahin zurück, wo Verständnis beginnt: bei Bildung, Neugier und Verantwortung.

  1. Ausbildung neu denken:Theoretische Ausbildung muss wieder mehr sein als Prüfungsvorbereitung. Grundlagenfächer wie Aerodynamik, Systemlogik, Meteorologie und Human Factors müssen miteinander verknüpft werden. Die Ausbildung sollte nicht das „Wie“, sondern das „Warum“ lehren.
  2. Interdisziplinarität fördern: Piloten sollten Wartungsprozesse verstehen, Techniker Cockpitlogik, Safety-Manager operative Realität. Nur wer das Ganze kennt, kann es sichern.
  3. Fehlerkultur vertiefen: Eine Kultur, die Fehler wirklich versteht, darf sie nicht sanktionieren, sondern analysieren. Es geht nicht darum, Schuldige zu finden, sondern Ursachen zu begreifen – auch die kognitiven.
  4. Technik begreifen, nicht nur bedienen: Automatisierung darf nicht zur Entmündigung führen. Piloten müssen lernen, Systeme kritisch zu hinterfragen. Maintenance-Teams sollten verstehen, warum ein System tut, was es tut.
  5. Organisationen entbürokratisieren: Sicherheit ist kein Formular. Sie entsteht in Köpfen, nicht in Datenbanken. SMS-Systeme müssen zu Lernsystemen werden – mit echten Feedback-Loops zwischen Ereignis, Analyse und Training.
  6. Mentoring statt Management: Erfahrung kann nicht digitalisiert werden. Junge Crews und Techniker brauchen erfahrene Mentoren, die nicht nur Wissen, sondern Haltung vermitteln.
Fliegen heißt verstehen
Die Flugsicherheit ist eine der größten Erfolgsgeschichten der Menschheit. Aber ihre Zukunft hängt nicht von der nächsten Softwareversion ab, sondern von der Fähigkeit, wieder zu denken.
Der Verlust des ganzheitlichen Denkens ist die unsichtbare Erosion an der Basis dieses Erfolges. Er geschieht leise – aber stetig.
Wenn wir weiter Menschen ausbilden, die Verfahren befolgen, aber Systeme nicht verstehen, schaffen wir eine neue Generation von Experten, die nichts mehr erklären können, wenn etwas schiefläuft.
Fliegen war immer mehr als Technik. Es war ein Zusammenspiel von Wissen, Erfahrung, Wahrnehmung und Verantwortung.
Sicherheit entsteht dort, wo jemand das Ganze sieht – nicht nur den Abschnitt, den er kontrolliert.
Und vielleicht liegt genau darin die wichtigste Erkenntnis unserer Zeit:

Das größte Risiko für die Flugsicherheit ist nicht der Mensch. Es ist der Mensch, der aufgehört hat, zu verstehen.

Meinung von Dipl.-Ing. T.Klaster

2025-10-31T13:27:19+01:0031. Oktober 2025|News|Kommentare deaktiviert für OP-ED zum World Standards Day
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